Freitag, 10. September 2010

Bedingungen für eine nützliche Statistik im Antiquariat








Wenn man Meldungen veröffentlicht, dann sollte man sie auch kommentieren, auswerten, hinterfragen. Das gilt besonders für die nur vermeintlich nüchternen Statistiken von jener Sorte, die uns das Börsenblatt diese Woche vor Augen führt.

Worauf es dabei in erster Linie ankommt, sah ich letzte Woche bei meinem Gastaufenthalt  im Freien Medienhändler-Forum : Es gibt eine sehr aktive, unternehmende und umsatzstarke Welt innerhalb des Antiquariats, die rundum völlig  a n d e r e n  Regeln folgt, anderen Gesetzmäßigkeiten, Handelsbräuchen und Ertragsrechnungen unterliegt als wir vom klassischen Antiquariat.

Dieser Sektor ist zahlenmäßig - unser erster statistischer Merksatz - weitaus höher, als Du und ich anzunehmen pflegen. Ich kanns nicht genauer beziffern, schätze aber den Umsatzanteil dieses "anderen" Sektors im gesamten Antiquariat auf rund 30-40 Prozent.

Gemessen an einem so großen Kuchenstück ist die Publizität der Gruppe, von der ich spreche, minimal, ihre Bekanntheit verschwindend gering, trotz recht guter innerer Vernetzung dringen die Sorgen und Freuden der Berufs-Untergruppe kaum über ihr Forum und gewisse Ebay- oder Amazon-Diskussionsforen hinaus. Es ist vor allem "bookmarathon" zu verdanken, daß wir überhaupt etwas Internes wissen  von diesen Kollegen "im Schatten".

Ich spreche, Sie haben es längst gemerkt, von den Händlern mit neueren gebrauchten (öfter auch Restauflagen-) Büchern der letzten 30 Jahre, vorwiegend im unteren und mittleren Preisbereich, meist mit gut organisierten Angebots- und Absatzwegen und, notabene, ganz beachtlichen Umsatzzahlen.

Die Betrachtung dieser Untergruppe unseres Gewerbes - "unten" ist hier gar nicht qualitativ gemeint - wird erschwert dadurch, daß mehr oder minder jeder klassische Antiquar diese Büchersorte  a u c h  bearbeitet. Dennoch kann man, je nach Arbeitsschwerpunkt, die Untergruppe der Kollegen mit eher modernen Waren gut abtrennen, schon weil sie besondere Ankaufs-, Bearbeitungs- und Vertriebswege hat.

Kleiner Exkurs: Der von mir vor olims Zeiten tückisch geprägte Begriff der "Kistenschieber",
mit dessen Bedeutung sich das Börsenblatt unlängst beschäftigt hat, meint nur bedingt die jetzt besprochene Kollegenschicht. Ich hatte ihn, den Begriff, tatsächlich aus dem jiddischen Schleichhändler- und Gauner-Jargon entnommen und meinte bestimmte Verhaltensweisen im Antiquariat, auf die ich um des lieben Friedens willen hier nicht eingehen will. Kurios immerhin, was sich aus den Zeiten der "Hess-Runde" alles an Mulzers Wortneuschöpfungen erhalten hat.

Zurück zur Statistik. Man könnte - wenn man sich zuvor auf bestimmte Definitionen geeinigt hat - den Bereich, von dem wir sprechen, den Handel mit "neueren gebrauchten Büchern" nennen, kurz sogar den ***Gebrauchtbuchhandel*** im Unterschied zum Handel mit  a l t e n  Büchern.

Die Regeln, nach denen er abläuft, sind radikal und völlig  a n d e r e  als im üblichen, klassischen Antiquariat. Es sind da mehrere Linien zu beachten, die zum Teil durch die Gesetze des Neubuchhandels bestimmt werden, alle aber nur bedingt und in Relation miteinander, als da wären Auflagenhöhe, Ladenpreis, Modernes Antiquariat, Lizenz- und Clubausgaben, ein rein technisch zu sehender Frische- bzw. Abnutzungsgrad, eventuelle Neuausgaben, neuere Auflagen, schneller oder gemächlicher Wandel der angesprochenen Berufs- oder Sachwelt, Modeerscheinungen nicht nur in der Literatur, um die wichtigsten Linien zu nennen.

Die meisten dieser Regeln sind, vor allem wenn man sie gewichtet, völlig andere als die im klassischen Antiquariat. Das müssen wir immer wieder in den Blick nehmen.

Wenn ich nun eine Absatz-Statistik für das Antiquariat aufstelle, dann muß ich um jeden Preis diese beiden Gruppen voneinaner trennen und eine dritte, auf die wir gleich kommen werden, auch noch. Sonst kann ich "eigentlich nichts aussagen".

Das Mittelfeld des klassischen Antiquariats ist größer, als man gemeinhin annimmt. Ich habe die Zahlen nicht mehr im Kopf, aber immerhin dürften vor Einführung der Buchbenummerung, also grosso modo vor 1960, rund 50 % aller Titel in unseren Bücherdatenbanken zu datieren sein, vor 1945 sind es immer noch rund 40 %.

Hier gelten nun völlig eigene Gesetze. Diese "klassischen" Regeln sind uns "klassischen" Antiquaren ja vertraut. Dagegen stehen die "modernen" Antiquare mit Schwerpunkt der gebrauchten neueren Bücher vor den klassischen Regeln wie der Ochs am Berg. Man kann sich das nicht krass genug vorstellen! Ähnlich geht es uns klassischen Kollegen freilich auch mit den neueren Antiquaren, auch deren Regeln kennt man "oben" kaum, jedenfalls geht es mir so, wenn ich in deren Foren lese - eine andere Welt kommt mir da entgegen. übrigens eine, in der ich um keinen Preis der Welt selber tätig sein wollte. Dafür zahle ich, wie manche anderen klasssischen Kollegen, den üblichen Preis der Verelendung. Das müßte aber nicht sein  - unter anderem dann nicht, wenn wir eine wirklich brauchbare Statistik zur Hand hätten.

Die dritte Gruppe, die ich gern getrennt hätte in den Statistiken, betrifft die Bücher über 100 Euro, salopp gesagt "die Versteigerungstitel". In diesem Sektor kenne ich mich vom Messe- und Auktionsmarkt her ganz gut aus, auch sonst lebe ich seit vielen Jahren von den (leider wenigen) Versteigerungstiteln, die ich erwerben kann. Und von daher würde ich mir sehr wünschen, daß wir auch die Sondergesetze des hochpreisigen Sektors gerade im Absatz berücksichtigen würden. Sonst hat Statistik einfach keinen Sinn.

Die drei Sektoren können sich völlig gegensätzlich entwickeln. Auch das läßt sich oft logisch begründen und herleiten, nur darf man da nicht ins Spekulieren kommen.

Aus meiner "klassischen" Sicht ist die größte Augiasaufgabe, die erste zu knackende Nuß für das Gesamtantiquariat  die Neubelebung des älteren Buchmarktes für mittlere Titel etwa 1880-1933 (ich sage nicht "bis 1945", sapienti sat). Die Bücherdatenbanken haben da seit vielen Jahren einen fast unbewegten Riesenbestand liegen, den ich übrigens in der Hess-Runde erstmals als "Büchermulch" bezeichnet hatte, kürzlich wurde auch dieser Begriff im Börsenblatt hinterfragt - es ist ein Fachausdruck für die Rohmasse in der Pappen-Fabrikation, der  v e r r o t t e t  ist, angeschimmelt und feucht, in großen Ballen, und so am besten zu verarbeiten ist. Ich wußte schon, warum ich gerade dieses Wort gewählt hatte für unsere älteren, unabsetzbaren Bestände...

Wie auch immer, wir kommen nur dann zu vernünftigen statistischen Werten, wenn es uns gelingt - einfach ist das nicht -  die drei Sektoren statistisch getrennt zu erfassen. Ich würde das versuchen bei der Abgrenzung "neuere zu klassisch" über das Erscheinungsjahr, bei der von "klassisch zu Versteigerungsware" über den Preis. Wobei "Versteigerungsware ganz und gar nicht das tatsächlich so abgewickelte Versteigerungsgut meint, sondern "typische versteiger b a r e   Ware", eben die Wertgrenze von rd. 100 Euro nach oben.

Hier mache ich nun ein Punkt, auch wenn ich gern noch manches zu dieser Frage sagen würde. Mir ist die statistische Arbeit vor allem von w+h sehr sympathisch, daraus kann sich Nützliches für jeden Kollegen entwickelkn,  f a l l s  diese drei Gruppen getrennt werden.

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Das Foto oben, Eigentum des Bundesarchivs, zeigt die Bücherecke in der Alten Reichskanzlei zu Berlin. Dank an den Baier-Verlag für das Titelbild seines Buchs über die "Jenischen"

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