Freitag, 15. Oktober 2010

Innovationsbewertung und Ausbildung im Antiquariat





Der aufmerksame Leser wird mit ärgerlichem Hochziehen der Augenbrauen festgestellt haben, daß ich im letzten Aufsatz die beiden wichtigsten Arbeitsbereiche einer politischen Vertretung im Antiquariat mit Schweigen übergangen hatte: Was bitte ist denn mit Innovation und Ausbildung?

(Um ein halbwegs einheitliches Bild zu erzielen, bleibe ich im stichwortartigen Stil. Das ist auch sonst gut, denn ich spreche zur Zeit durchgängig schweizerdeutsch und das färbt unweigerlich auf den Schreibstil ab. Texte zwischen Keller und Dürrenmatt wollen Sie aus meiner Feder nicht haben.)

Kommission für Innovation und Krisenmanagement

- Feststellen, Beschreiben und Bewerten bereits eingeleiteter oder voraussichtlich zu erwartender Entwicklungen, die für das Antiquariat von Bedeutung sein können

-- Bedeutung der F r a k t u r. Dafür müßte aus Sicht des mittleren Antiquariats, siehe meine übliche (üble?) Stufeneinteilung, eine eigene Kommission eingerichtet werden. Verläßliche Quellen zur Lesegewohnheit und Lesegeübtheit der alten Schrift fehlen - größtes Hindernis, um zu verläßlichen Zahlen zu kommen, ist die Scham der zu befragenden Klientel. Wer gibt schon gern zu, besonders im akademischen Milieu, daß er Mühe hat, Fraktur zu lesen? Noch schwieriger die Ermittlung des gefühlsmäßigen Verhaltens zur Fraktur. Beides, Geübtheit wie auch Gewohntheit/ Vorliebe entscheidet aber über den Verkauf solcher Texte. Taugen Standard-Klassikerausgaben um die Jahrhundertwende als Kriterium (Bongs goldene Klassiker, vorher Hempel) oder sind da texteditorische Gründe maßgeblich?

Strategien zur Behebung der Misere. Tatsächlich kommen weiterhin und noch auf längere Zeit fallweise größere Mengen an Frakturtexten herein, Hoffnung auf Aussitzen der Frage ist illusorisch. Gibt es Bündnispartner im Schulbereich? Kann Frakturlesen wieder Eingang in den Lehrplan finden, sollen wir Antiquare das fördern (zugleich als werbewirksame Öffentlichkeitsarbeit?). Was spricht eigentlich für das Frakturlesen (vieles - Lesegeschwindigkeit, Kürzellesen, Buchstabenbilder, Bedeutung der Serifen für die Lesekultur, Kampf gegen die Arial-Buchstabenaskese).

Wie geht der Antiquar praktisch um mit Frakturbüchern? Soll das in der Titelaufnahme vermerkt werden, und wenn ja, wie? Handhabung muß mit w+h, GBV usw. abgesprochen werden, auch mit den Bücherverkaufsdatenbanken. (Anmerkung: Wie sind sie eigentlich zu benennen? Zur Unterscheidung etwa zum KIT (ex Karlsruher virtueller Katalog) und den Bibliotheks(verbunds)kalalogen meinen wir Antiquare ja (zunächst nur) Verkaufs- Bücherdatenbanken. Portale sind wieder was anderes? Diese Namensfrage ist zu klären.

-- Bedeutung der vom Netz abgekupfterten und der "automatischen" N a c h d r u c k e. Das betrifft sowohl die frechdummen Diebstahls-, Aufbereitungs- und Billigdruckaktionen, bei denen aus Wikitexten "Bücher" gemacht werden, als auch die Neudrucke aus diversen eingescannten und ins Netz gestellten (sic) "Digitalisierungen". (Sprachregelung, daß aus der Fraktur in Antiqua übertragene Texte etwas anderes sind, auch juristisch, als direkt in Antiqua "als Buchstaben" eingestellte Texte, und diese wieder etwas anderes als "fotografierte" = (nur) eingescannte und in Bildform ins Netz gestellte Texte. Klare Definitionen mindestens für unseren internen Sprachgebrauch müssen her, sonst wissen wir gar nicht, worüber wir im Einzelfall reden).

Ich halte eine Befassung der Antiquare mit dem Nachdruckwesen neuer Art für äußerst wichtig. Hier müßten Tagungen und Ausschußsitzungen stattfinden. Merke, zur rechten Zeit erkannte Gefahr ist gebannte Gefahr! Durchrechnen der Kosten- und Gewinnmarge bei den bisherigen Nachdrucken, besonders bei den "dummfrechen" (etwa Nabu-Press), Analyse, wie die Bücher-Verkaufsdatenbanken sie darstellen und abrufbar halten (in Amazon ganz katastrophal, ein Test etwa mit ortskundlicher Literatur führt zu abstrusen roßtäuscherischen Resultaten (Kontakt zu Verbraucherschutz sinnvoll?).

Gegenstrategien der Antiquare nur auf politischer Ebene möglich. Die Nachdruckseuche kann das klassische Antiquariat der mittleren Stufe innerhalb ganz kurzer Zeit buchstäblich ruinieren. Überdies Imageschädigung durch Eingewöhnung alter Drucke als "schäbig" und "billig". Alte Bücher als gelumbackte, schludrig fotokopierte und dümmlich standardgebundene Broschüren. Zusammenhang mit den kopierten Raubdrucken der 68er-Bewegung untersuchen, Querverbindungen? Lehren hieraus?

Unterschiede zu den seriösen Nachdrucken ansehen, Rolle der teuren Nachdruckverlage (z.B. Wiesbaden, München) durch extrem hohe Preise schädlich oder nützlich für den Antiquar (interessante Frage)

Grundfrage: Soll sich der Antiquar zum Herrn der Nachdruckszene machen, sich selber aufs Roß setzen (ich meine: ja), oder soll er darauf vertrauen, daß Sammler die Originale wollen?


Kommission für Ausbildung und Unterricht

Ausbildung sei die umfassende Berufsausbildung, Unterricht dagegen die themenbezogene Förderung von bereits ausgebildeten bzw. im Beruf erfahrenen Antiquaren

- - Hier muß zuvor das Schichtenmodell besonders diskutiert werden. Was unterscheidet den Arbeitsstil der Neubuch- und MA-Kollegen, der Bestandsaufkäufer neuerer Literatur mit ganz überwiegend ISBN-fähigen Titeln vom mittleren Allround-Antiquar, der bei Privat ankauft und gut durchmischtes Lager älterer und neuerer Titel bereithält (Beispiel für Kollegen mit visuellem Gedächtnis: der Wilsberg-Laden in Münster) und diesen wiederum vom Edel-, Spezial-, Hochpreisantiquar?

Die Arbeitsmethoden differieren sehr. Psychologisches Problem, daß sich Kollegen der "unteren" Schicht beleidigt und abgewertet fühlen, wenn sie nicht auch mittlere und Edel-Methoden lernen sollen/ dürfen. Weiteres Problem, daß der Aufstieg vom unteren zum mittleren Antiquar recht oft gelingt, von der Mitte nach oben eher selten, was Gründe hat.

Diese psychologischen und praktischen Gründe sprechen dafür, an einer Einheitsausbildung für das Antiquariat festzuhalten, auch wenn dabei (vermeintlicher oder tatsächlicher) "unbrauchbarer Schrott" mitgelernt werden muß.

- - Traditionelle Handbücher (nicht nur, aber vor allem der Wendt) sind aus Sicht des gehobenen Antiquars geschrieben. Kurioserweise hraucht der Edelantiquar aber solche Lehrbücher nicht. Sie werden von unteren und vor allem vom mittleren Bereich genutzt - der aber vermißt zurecht vieles, was ihm im unteren und mittleren Sektor nützlich wäre. Fazit, auch wenns schwer fällt, daß ein neuer, eigener

* Gemeinschafts-Lehrkurs der Antiquare

hergestellt werden muß. Frage, was die bisherigen Kurse da hergeben? Wurden Skripte erstellt? Wurden sie ganz verhehlt oder zu teuer verkauft? Ich habe noch kein Skript gesehen, bin allerdings arm. Wer erstellt die Skripte? Soll die Diskussion darüber nach Vorbild der Wiki-Diskussionsseiten geführt werden, oder ist dafür ein Ausbildungsforum geeigneter?

Da ich nach Schulherauswurf ein Oberstufenjahr mit den monatlich 13 Lehrheften der Akademikergesellschaft für Erwachsenenbildung (früher AfE, heute Akad) überbrückt habe, bin ich engagierter Freund von Fernlehrkursen, freilich nur mit schriftlichen und mündlichen Vertiefungen und Prüfungen. Sinnvoll vielleicht Kombination von Fernlehrkursen und Blockunterricht in der Buchhändlerschule in Frankfurt. Soll das Material öffentlich ins Netz gestellt werden? Ja, aber die damit obligatorisch verbundenen Prüfungen bzw. Praxisvertiefungen nur gegen Gebühr.

Die Erfahrungen der AG im Börsenverein mit einbeziehen, die Weiterbildung dort war freilich strikt aufs Edelantiquariat ausgerichtet. Kolleginnen wie Bookmarathon müßten sich dort - zurecht - veralbert vorkommen. Andererseits lesen sich die Berichte im AdA über die Fortbildungsveranstaltungen sehr sympathisch. Frage deshalb, ob sich

*beide Lehrarten kombinieren

lassen, und - immer wieder - die Frage der echten Einbeziehung unserer unteren Berufsschichten.

Durch keine andere Tätigkeit kann der Zusammenhalt der Antiquare so gut gefördert werden wie durch ein offenes, nicht verhehltes Kurssystem mit schriftlichem Lehrmaterial.



Ich danke meinem verehrten Kollegen Koestler für die liebenswürdige Übermittlung des Buchdeckels


Nachschrift:

Werte Kolleg/in "Behnke-Buch": Sie stellen im Börsenblatt/ Netzteil Antiquariat zurecht fest, daß die Idee zum Bücher-Michel von mir stammt. Ich hatte sie in mehreren ausführlichen Beiträgen entwickelt. Es bleibt mir deshalb ziemlich unverständlich, daß Sie geruhen, mich im gleichen Atemzug als "Foren-Troll" zu bezeichnen.

Daß ich die von mir angedachten Projekte nicht verwirkliche, hat einen einfachen Grund. Es gibt dies und das, was ich zur Beschaffung einiger trockener Brötchen, für die Versorung meiner Spinnen + Käferchen und zum Erwerb neuer warmer Socken für den Winter tun muß, zu deutsch: ich arbeite für gewöhnlich den lieben langen Tag über.

Sollten die verehrten Antiquare wünschen, daß ich an der Verwirklichung meiner Ideen mitarbeite, dann müssen sie es mir sagen. Ich knapse dann schon die notwendige Zeit dafür ab. Solang ich aber nichts höre, werde ich auch nicht tätig. Für wen? Wozu?
Von 2010-10-15

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